Susanne Hartmann
informierte über die neusten
Entwicklungen im Projekt Wil West.
Das Ehepaar An und Luigi Polimeno aus Wiezikon ruft Alarmstufe Rot aus: «Die körperliche, soziale und mentale Verfassung vieler unserer Kinder hat in den letzten fünf Jahren drastisch abgenommen. Die Schere mit den Kindern, die sich altersgerecht entwickeln, wird immer grösser.»
Sirnach Anfang Juli organisierten An und Luigi Polimeno, Inhaber und Karatetrainer des Tomodachi Dojos in Sirnach, einen Elternabend zum Thema körperliche, soziale und mentale Verfassung der Kinder. In ihren 30 Jahren als Trainer beobachteten sie seit Jahren negative Veränderungen im Verhalten und der physischen Verfassung der Kinder im Karateunterricht. «Die Kinder sind zunehmend unbeweglicher, ihre Koordination wird schlechter, sie haben weniger Ausdauer und Kraft und die Körperhaltung und -spannung der Kinder verschlechtert sich», berichten die Trainer. Auch im sozialen und emotionalen Bereich zeigen sich laut den Polimenos besorgniserregende Trends: «Immer mehr Kinder haben eine schlechtere Konzentration, zeigen weniger Respekt, sind schneller abgelenkt, impulsiver und geben schneller auf.»
Diese Defizite haben direkte Auswirkungen auf den Karateunterricht. «Die reduzierte kognitive und körperliche Verfassung führt zu einem sinkenden technischen Niveau. Wir mussten die Ansprüche im Gurtprüfungsprogramm in den letzten Jahren herunterfahren», erläutert das Ehepaar Polimeno. Zusätzlich sei eine grössere Schere zwischen unterforderten und überforderten Kindern entstanden, was eine stärkere Leistungsgruppierung und den Einsatz mehrerer Trainer im gleichen Training notwendig mache. «Manche der Kinder sind schneller gelangweilt oder haben Mühe mit Autorität, während andere Kinder keine Geduld haben und schneller demotiviert sind, wenn sie kaum Fortschritte spüren», so die Polimenos. Gerade bei mangelndem Respekt vor Älteren, Eltern und Lehrpersonen sehen sie einen klaren Zusammenhang: «Das sind die Kinder, die auch im Training mehr Mühe haben.» Auch sie als Trainer sind dadurch schneller überfordert: «Das Risiko, den Spass am Unterrichten zu verlieren, ist auch für uns durch den steigenden Aufwand und mehr Komplexität grösser geworden.»
Die Ursachen dieser negativen Entwicklungen sehen die Karatetrainer vor allem in der zunehmenden Bildschirmzeit: «Lernen Babys laufen, wenn sie ein Video mit einer Anleitung darüber sehen, oder durch Ausprobieren? Die digitale Welt bietet keine Verbindung zum Körper. Stattdessen überflutet sie unsere Kinder mit Reizen, was zu innerer Unruhe führt und die Gehirnentwicklung hemmt. Auch die Neugier wird reduziert, da die Portion Action bereits abgedeckt ist.» Die Polimenos suchten auch das Gespräch mit diversen Spezialisten, wie Sportlehrern oder Physiotherapeuten welche ihnen ebenfalls vom Anstieg von psychischen Problemen, Angststörungen, verkürzten Muskeln, und Problemen im Nackenbereich oder zunehmender Kurzsichtigkeit bei Kindern berichteten, welche unter anderem durch Handy, TV und Tablet begünstigt werden. Diese Einschätzung wird von anwesenden Eltern bestätigt, die berichten, dass ihre Kinder nach der Bildschirmzeit oft emotional unausgeglichen und schwerer zu handhaben seien.
Als Reaktion auf diese besorgniserregenden Beobachtungen haben An und Luigi Polimeno mehrere Massnahmen im Karateunterricht und Empfehlungen für den Alltag entwickelt. Im Dojo wollen die Trainer konsequenter Aufmerksamkeit einfordern und bei wiederholten Schwierigkeiten schneller das Gespräch mit den Eltern suchen. Ab acht Jahren wird eine Teilnahme an zwei Trainings pro Woche vorausgesetzt und es gibt eine Fördergruppe für unterforderte Kinder. «Auch müssen Kinder, die andere stören, eine zehnminütige Pause machen.» Für zu Hause empfehlen die Polimenos, den Umgang mit Bildschirmen so lange wie möglich hinauszuzögern, die Bildschirmzeit der Kinder streng zu überwachen und so weit wie möglich einzuschränken: «Eltern sollten als Vorbilder agieren, indem sie selbst ihre Bildschirmzeit reduzieren und mehr Familienzeit einplanen. Freies Spiel ohne Aufsicht muss gefördert werden, um die Kreativität und Sozialkompetenz der Kinder zu stärken. Auch Langeweile kann ein Geschenk sein: Damit lernen Kinder, sich selber zu beschäftigen.» Auch würde es den Kindern laut den Polimenos guttun, wenn sie öfters einmal ein Nein hören: «Wir müssen für unsere Kinder nicht die besten Freunde spielen. Als Erziehungsberechtigte müssen wir ihnen klare Grenzen setzen aber ihnen auch das Vertrauen in die eigenen Kompetenzen schenken indem wir sie ermutigen, dass sie Dinge auch einmal alleine schaffen.» Nachhaltiges Karate für alle Das Tomodachi Dojo verfolgt das Leitbild «Karate für alle» und möchte nicht nur talentierte Kinder anziehen, sondern allen einen positiven Einfluss auf ihre Entwicklung bieten. An und Luigi Polimeno sehen es als ihre Aufgabe, einen positiven Beitrag für die Gesellschaft zu leisten, und hoffen, durch ihre Massnahmen die körperliche, soziale und mentale Verfassung der Kinder nachhaltig zu verbessern.
Jasmin Schwager
«In der Berufsschule habe ich gelernt, dass es einen Unterschied zwischen gutem und schlechtem Dopamin gibt. Gut sind sportliche Betätigung, Zeit in der Natur oder Sozialkontakte. Auch schlechte Quellen, wie Drogen, Alkohol oder Social Media, schütten Dopamin aus. Bei Tabak und Alkohol weiss man heute, dass sie Gesundheit und Psyche negativ beeinflussen. Darum würde niemand seinen Kindern erlauben, zu rauchen. Wieso macht man es also mit Handy und Tablet, von denen man mittlerweile weiss, dass sie uns ebenfalls nicht guttun und süchtig machen? Rückblickend bin ich froh, bin ich ohne TV und Tablet aufgewachsen und hatte mein erstes Handy erst mit zwölf und mit eingeschränktem Zugriff auf Social Media. Ich rate auch anderen Eltern, so lange wie möglich damit zu warten und die Kinder gut zu überwachen.»
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